Freizeitforschung

Freizeitforschung
I
Freizeitforschung,
 
Freizeit bezeichnet jenen Teil der menschlichen Lebenszeit, der weder direkt den Anforderungen gesellschaftlich strukturierter Arbeit unterliegt noch der unmittelbar notwendigen Wiederherstellung der menschlichen Arbeitsfähigkeit (Schlaf/Essen) dient, sondern als Teil der arbeitsfreien Zeit stärker einer selbstbestimmten, selbst gestalteten individuellen Praxis zur Verfügung steht, gleichwohl aber seine Grenze und gegebenenfalls auch Inhalt und Struktur aus dem Bezugsverhältnis zur gesellschaftlichen Form der Arbeit gewinnt. Freizeit ist also mehr als lediglich »freie«, nicht im Rahmen der gesellschaftlich organisierten Tätigkeiten zur Befriedigung materieller und ideeller Bedürfnisse verbrauchte Zeit, und sie ist weniger als »Muße«, die eine dem Individuum zur Selbstentfaltung zur Verfügung stehende Zeiteinheit darstellt. In diesem Sinne beschäftigt sich die Freizeitforschung mit Motivationen, Einstellungen sowie Verhaltens- und Erlebnisweisen, soweit diese als freizeitspezifisch aufzufassen sind beziehungsweise in direktem Zusammenhang mit der Freizeitgestaltung stehen.
 
Eine rein zahlenmäßige Betrachtung der Freizeit beziehungsweise eine bloße Bestandsaufnahme verschiedener Freizeitaktivitäten vernachlässigt, wie sie in die jeweilige Arbeitsorganisation eingebunden sind; sinnvoller erscheint es, von Grundfunktionen der Freizeit auszugehen. War die Freizeit in der frühen Industriegesellschaft fast ausschließlich mit der Wahrnehmung der wieder herstellenden Funktion ausgefüllt, so ist die Freizeit in modernen Industriegesellschaften durch die »suspensive« und »kompensatorische« Funktion (J. Habermas) charakterisiert, deren Bedeutung seit der Jahrhundertwende und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg zugenommen hat (so standen den Bundesbürgern 1952 pro Tag 2 Stunden und 33 Minuten, 1980 dagegen 4 Stunden und 6 Minuten zur wirklich freien Verfügung, neben Arbeit, Schlafen, Essen, Anziehen und anderem). Während die suspensive Funktion der Freizeit darin besteht, Arbeitsvorgänge in »eigener Regie« fortzusetzen (Gartenarbeit, Weiterbildung, soziales Engagement), bezeichnet die kompensatorische Funktion der Freizeit die Organisation von Erfahrungsräumen, die nichts mehr mit Arbeit zu tun haben, sondern für deren Zwänge entschädigen sollen (Rückzug in Freundeskreis und Familie, Konsum aller Arten von Unterhaltung, Sport).
 
Stand bei den Bürgern nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Orientierung an der Familie im Zentrum der Freizeit, so stehen seit den Siebzigerjahren Medienkonsum und schließlich Reisen an der Spitze der Freizeitaktivitäten. Damit verbunden sind eine veränderte Bewertung einzelner Aktivitäten und eine offensichtliche Umstrukturierung der für die Persönlichkeit kennzeichnenden Idealvorstellungen. Parallel dazu scheint sich im Selbstbild eine Wandlung vom »Arbeitsethos« zur »Freizeitpersönlichkeit« (Horst W. Opaschowski) niederzuschlagen; vor allem diejenigen Tätigkeiten treten stärker in Erscheinung, die auf eigene Aktivität setzen (Sport, Tanzen, Hand- und Heimwerkerarbeiten). Mit der Zunahme der Freizeit wachsen Interesse und Bedarf an Freizeitorganisation, sowohl aufseiten der »Verbraucher« als auch aufseiten von Anbietern und sozialen Institutionen. Trotz der Zunahme der Freizeitaktivitäten fühlt sich jeder dritte Bundesbürger in seiner Freizeit vereinsamt; die Klagen über »Langeweile« in der Freizeit nehmen zu, umso mehr, als die Zahl Nichterwerbstätiger steigt.
 
Mit dem Anwachsen der ökonomisch-sozialen wie auch der ökologischen Bedeutung der Freizeit wächst der Bedarf an politischer und psychologisch-pädagogischer Gestaltung des Freizeitbereichs, die in manchen Gesellschaftssystemen zur politischen Indienstnahme der gesamten Freizeit geführt hat. Jedoch besteht auch in den Demokratien westlicher Prägung die Möglichkeit, Freizeitpolitik als Prestigeobjekt, als ökonomische Strategie und als ideologisierende Komponente bei der Wählerbeeinflussung einzusetzen. In vielen Ländern der »Dritten Welt« versuchen die Regierungen, Land und Leute als Kulisse für die Freizeitaktivitäten zahlungskräftiger Touristen zur Verfügung zu stellen. In den Industrieländern hat die zunehmende Freizeit zu einem Bedarf an entsprechenden Fachkräften und zur Entwicklung einer allgemeinen Freizeitpädagogik geführt.
 
Wissenschaftstheoretisch lassen sich drei Hauptrichtungen der Freizeitforschung unterscheiden: 1. die strukturfunktionalistische Theorie untersucht die Bedeutung der Freizeit für die Funktionsfähigkeit des zugehörigen sozialen Systems sowie die Rolle entsprechender Institutionen; 2. die konflikttheoretisch orientierte Freizeitforschung untersucht den Zusammenhang von Freizeit und sozialem Konfliktpotenzial (»Entfremdung«); 3. der interpretative Ansatz befasst sich mit der Sinnorientierung der Akteure im Freizeitbereich. Im Rahmen der empirischen Soziologie nehmen Forschungen zum Wandel des Freizeitverhaltens, zu bestimmten sozialen Gruppierungen (Industriearbeiter, ausländische Arbeitnehmer, Jugendliche, Landbevölkerung) vergleichsweise breiten Raum ein. In Verkehrung der Fronten aus dem Kampf um den »Normalarbeitstag« seit der Jahrhundertwende stehen heute kritische Sozialforscher den Entwicklungen der Freizeit eher skeptisch gegenüber, während konservative Freizeitforscher eher die mit der Zunahme der Freizeit gewachsenen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten betonen.
II
Freizeitforschung,
 
Freizeit.

Universal-Lexikon. 2012.

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